VORTRAG  ZUM  ZAUBERSPRUCH
SALAMANDERS  SEELENKRAFT


Dieser Hörsaal ist weitaus kleiner. Die Wände des Raumes scheinen aus grünem und braunem Geflecht zu bestehen, dessen Muster sich unentwegt verändert. Du gewinnst den Eindruck, daß Du Dich mitten auf einer Lichtung im Wald befindest: Rund um Dich herum stehen Laubbäume, durch deren Äste der Wind streicht. Ein leises Rauschen erfüllt den Raum. Bei einer genaueren Untersuchung der Wände stellst Du fest, daß das Geflecht nur aufgemalt zu sein scheint. Jedenfalls spürst Du mit Deinen Händen lediglich die Konturen einer glatten Holzwand. Wahrscheinlich liegt auf den Wänden ein mächtiger Illusionszauber, mit dem ein fast perfektes Bild einer Waldlichtung geschaffen wurde. Im vorderen Teil des Raumes befindet sich ein Stehpult, von denen die Lehrmeister offensichtlich ihre Vorträge halten. Die Seiten sind mit kunstvollen Schnitzereien verziert. Auf dem Stehpult steht ein kleines Schälchen, das mit trockenen, zerriebenen Blättern gefüllt ist. Der Duft von Ilmenblatt steigt Dir in die Nase.

Dann betreten fünf Eleven, darunter zwei Elfen, den Raum und setzen sich im Schneidersitz auf den Boden. Du setzt Dich dazu und wartest mit ihnen auf den Lehrmeister. Einige Minuten später erscheint ein kleiner, leicht untersetzter Mann mit graumelierten Haaren, der in eine graue knapp sitzende Robe gekleidet ist, und schreitet zum Stehpult. Es handelt sich um Magister Cellyon vom Dieckenfelde, der schon dreißig Sommer an der Akademie lehrt.

    "Meine verehrten Eleven! Ich bitte vielmals für meine Verspätung um Entschuldigung, aber meine Forschungen befinden sich gerade - wie soll man sagen - in einer heißen Phase. Ein Großteil meiner Zeit wird deshalb dafür beansprucht. Nun, ich will Euch nicht langweilen und deswegen direkt mit unserem heutigen Thema beginnen. Es geht um den kürzlich wiederentdeckten Zauberspruch 'Salamanders Seelenkraft - Schütze mich in dieser Nacht!'. Bevor ich allerdings genauer auf die Formel eingehen werde, möchte ich Euch vermittels eines Exkurses die Bedeutung näherbringen, die die Wiederentdeckung hatte.

    Wenn Ihr nach Eurer Ausbildung etwa als reisender Heilzauberer - dies nur als Beispiel - durch die Lande zieht, mag es durchaus vorkommen, daß Ihr des Nächtens einmal nicht den Schutz eines Gasthauses genießen könnt, sondern den Gefahren der Wildnis ausgesetzt seid. Natürlich ist eine Nacht unter freiem Himmel äußerst romantisch; nichtsdestotrotz haben insbesondere wilde Tiere oder gar finstere Schurken kein Verständnis für das Bedürfnis nach einer gesegneten Nachtruhe. Nun, der kundige Magus weiß sich zu helfen, oder? Er kramt in seinem Gedächtnis und findet - sofern er eine solide Ausbildung genossen hatte - zum einen die Formel des 'Reversalis Revidum', dessen Handhabung nicht ganz leicht ist, und den waldelfischen Spruch 'Band und Fessel Dich umringt'.

    Wie Ihr sicherlich wißt, ist es mittels einer Kombination beider Formeln möglich, eine Art Schutzzone um den Zaubernden herum zu errichten. Auf die genaue Technik der Reversalierung soll hier nicht weiter eingegangen werden. Das würde auch in unserer knapp bemessenen Zeit zu weit führen. Der 'Reversalis - Lessef dnu Dnab' ist ein äußerst potentes Mittel, um sich Sicherheit für die Nachtruhe zu verschaffen. Soweit die Theorie! Doch in der Praxis sieht das freilich anders aus: Meist beherrschen nur wenige Adepten den REVERSALIS aus dem Ärmel heraus. Gerade ihnen, die mit der Thesis nicht sonderlich vertraut sind, bleibt die Wirkung eines reversalierten Zaubers oftmals versagt. Zum anderen zehrt die Kombination beider Sprüche enorm an den astralen Kräften, so daß es kaum möglich ist, den Zauber an mehreren aufeinanderfolgenden Tagen zu wirken!"

Magister Cellyon hält kurz inne und schaut sich um. Unter den Eleven ist leises Gemurmel entstanden, das rasch lauter zu werden droht. Ein Lächeln huscht über das Gesicht des Lehrmeisters, war er doch selbst einmal ein junger Eleve mit vielerlei Gedanken im Kopf, die diskutiert werden wollten. Er räuspert sich ein wenig, so daß das Gemurmel augenblicklich verstummt.
    "Nun, ich sehe schon, Ihr habt die Problematik weitgehend erkannt. Kommen wir also jetzt zu der Formel des SALAMANDERS SEELENKRAFT. Wie ich bereits eben schon erwähnt habe, handelt es sich um eine Wiederentdeckung, doch dieser Begriff ist vielleicht etwas irreführend. Tatsache ist, daß hier in Donnerbach - und wahrscheinlich in den meisten anderen Akademien des Nordens - keine Aufzeichnungen, Berichte oder auch nur Andeutungen über die Existenz eines solchen Spruches bestehen. Von dieser Seite aus betrachtet sollte man eher von einer Entdeckung sprechen. Doch die vergangenen Wochen und Monate haben anderes gezeigt..."
Es folgt ein Monolog von Einzelheiten, die zur Entdeckung des Spruches geführt haben. Cellyon erzählt über Gespräche mit alten, erfahrenen Elfen, denen das Grundprinzips des Zaubers zwar sehr vertraut war, den Spruch an sich aber nicht beherrschten. Schließlich sei man in den Salamandersteinen einem uralten, weisen Waldelfen begegnet, der die Formel sogar gemeistert hatte. Dieser berichtete über alte Überlieferungen aus längst vergangenen Tagen, in denen unter den Elfen ein solcher Spruch existiert hatte...
    "...also seht, daß es sich eindeutig um elfisches, wenn nicht sogar hochelfisches Gedankengut handelt. Die Spekulationen über weitere Details der Herkunft soll an dieser Stelle nicht weitergeführt werden, sondern anderen vorbehalten bleiben. Konzentrieren wir uns vielmehr auf den Spruch an sich: Mit dem SALAMANDERS SEELENKRAFT wird eine ähnliche Wirkung erzielt wie mit der reversalierten Form des BAND UND FESSEL. Hierdurch kann ein Zauberkundiger sich und seine Gefährten eine Nacht lang vor wilden Tieren und denkenden Lebewesen, also in aller Regel Menschen, Elfen, Zwergen und dergleichen, schützen. Ob der Zauber allerdings auch gegen unheilige oder jenseitige Wesenheiten wirkt, ist noch nicht bekannt. Jedenfalls haben wir in den letzten Wochen und Monaten keine derartigen Versuche unternommen, das herauszufinden. Schlechterdings haben die ersten Forschungen ergeben, daß unter Umständen die Schutzzone von einem Außenstehenden durchbrochen werden kann. Dies war zwar äußerst selten der Fall, indes, es ist vorgekommen! Wir werden uns natürlich noch eingehender mit dem Phänomen beschäftigen. Die ersten Anzeichen deuten darauf hin, daß es bei Tieren wohl einer gewissen Wildheit bedarf, um die Zone zu betreten, während bei denkenden Wesen in aller Regel der Intellekt aber auch der starke Wille ausschlaggebend sind. Nichtsdestotrotz, so scheint es, spielt die Erfahrung des Zauberwirkenden eine wesentliche Rolle: Als uns der uralte Waldelf, von dem ich eben berichtet habe, den Zauber zum ersten Mal vorgeführt hatte, war es keinem von uns möglich, in den Schutzkreis einzudringen. Dieses Ereignis hatte uns damals gänzlich von diesem Spruch überzeugt, so daß wir die weiteren Forschungen angestellt haben.

    Weiterhin interessant dürfte die Technik sein, die der Zaubernde zur Wirkung des Spruches anwenden muß. Er schreitet hierbei einen Kreis um die zu schützende Stelle herum ab und streut dabei - und das ist das Erstaunliche daran - zerriebene getrocknete Ilmenblätter auf den Boden. Nun, das mag auf den ersten Blick vielleicht verwunderlich sein, meine verehrten Eleven! Doch dann seid Ihr wahrscheinlich nicht mit der Wirkung des Ilmenblattes vertraut. Vom Duft des Ilmenblattes weiß man, daß es selbst die wütendsten Berserker beruhigt. Dies scheint auch hier der Fall zu sein: Bei unseren Beobachtungen ergab sich, daß Tiere beispielsweise nicht wütend auf die Schutzzone zuliefen, sondern schon vorher ihre Angriffslust verloren und anschließend wieder ruhig in den Wald trabten. Die Frage, die sich Euch nun stellen sollte, ist, ob wir bei der Wirkung des Zaubers nicht ohne Ilmenblatt auskommen könnten. Doch erneute Versuche zeigten das Gegenteil. Die gewünschten Effekte stellten sich nicht ein, so daß Mensch und Tier gleichermaßen von der vermeintlichen Schutzzone unberührt blieben. Momentan werden intensive Forschungen angestellt, ein Substitut für das Ilmenblatt zu finden. Denkt beispielsweise an die getrockneten Blätter des Roten Drachenschlunds, die angeblich Werwesen fernhalten sollen, oder bestimmte beruhigende Kräuter, wie Mohn oder Lotos, die andernorts als Rauschmittel eingesetzt werden.

    Eine andere Frage ist ebenfalls noch nicht beantwortet: Handelt es sich bei dem Einsatz einer Pflanze zur Wirkung der Formel eventuell um eine Art Artefaktmagie? Haben sich die Hochelfen in der damaligen Zeit eine neue Form der Magie geschaffen? Erste Analysen mittels ODEM ARCANUM haben eigentümlicherweise eine schwache magische Aura gezeigt, die von den zerriebenen Resten der Ilmenblätter ausgingen. Weitere Untersuchungen mit dem ANALÜS ARCANSTRUKTUR brachten allerdings keine neuen Erkenntnisse. Alles in allem läßt sich sagen, daß es sich wohl um Beherrschungsmagie handelt. Doch das scheint nur ein Sekundäreffekt zu sein. Primär liegt sicherlich ein Verwandlungszauber vor, was sich aber nicht beweisen läßt. Allerdings sprechen die Anzeichen des ODEM ARCANUM eindeutig dafür..."
Was folgt, sind hochgradig magietheoretische Überlegungen zum Problem der eindeutigen Zuordnung zu einem Spezialgebiet. Magister Cellyon stellt Behauptungen auf, die er im nächsten Augenblick wieder verwirft, um den Eleven - wie er sich ausdrückt - die Komplexität des Ganzen deutlich zu machen. Dabei bezieht er sich in seinen Ausführungen häufig auf Theorien mehr oder weniger bekannter Magier, die er teils untermauert, teils aber wieder infrage stellt...




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Brief an den Statthalter Letzter limbischer Applicatus: 2001-04-13, Ariston C. vom Rabenstein
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